Es gibt Menschen, die fliegen alljährlich nach Mallorca, um sich hier mit Gleichgesinnten volllaufen zu lassen, zu fragwürdiger Musik zu tanzen und am Strand ihre Chance auf Hautkrebs zu erhöhen. Dann gibt es Leute, die rollen mit ihrem Wohnwagen mit den ersten frühlingshaften Sonnenstrahlen des Jahres auf den gleichen Campingplatz an irgendeinem See in Mitteldeutschland, an dem sie schon die vergangenen 20 Jahre standen und verlassen diesen erst wieder, wenn sich Eisblumen am Wohnwagenfenster bilden. Satellitenschüssel ausgerichtet, Grill vorgeheizt, Bier steht kalt: perfekter Urlaub.
Und dann gibt es Schwedenurlauber.
Der durchschnittliche Schwedenreisende ist männlich, bärtig, Rentner und mit dem Wohnmobil unterwegs. Man erkennt ihn außerhalb Schwedens meist am Elchaufkleber am Wohnmobil-Alkoven. Er fand seine Affinität für das skandinavische Land wahrscheinlich irgendwann in den 70ern, als er zum ersten Mal mit seinem VW-Bulli gen Norden fuhr. Alleine, auf der Suche nach Freiheit in Europas letzter Wildnis. Und nach blonden, barbusigen, zur damaligen Zeit aus frivolen Schweden-Filmchen bekannten Schönheiten. Aber besonders nach Freiheit.
Ich weiß das, denn mein Vater gehörte zu dieser Gattung.

Und nun stehe ich selbst hier. Mitten in Dalarna. Um mich herum nichts als Bäume.
Meine Freundin steht neben mir und sucht den Luftraum skeptisch nach Moskitos ab. Sie liebt die Sonne und hasst Mücken. Dass ich sie trotzdem überreden konnte, mich ausgerechnet nach Skandinavien zu begleiten, ist daher ein wahrer Liebesbeweis – und dann auch noch auf eine Art Selbstfindungstrip. Doch von vorne: Mein Vater, der Schwedenurlauber, verstarb im vergangenen Jahr überraschenderweise. Als ich nach seinem Tod in sein Haus kam, war alles so wie gewohnt. Sein Volvo stand in der Einfahrt, in der Küche ein Punschglas mit gläsernem Elchgeweih, daneben ein paar Schnapsgläser – bedruckt mit den für Schweden typischen, gelb-roten Elch-Warnschildern. Im abgegriffenen Schweden-Reiseführer im Regal waren schon die nächsten Ziele zwischen Stockholm und Abisko für den kommenden Sommer mit Post-Its und Kugelschreiber markiert.

Was hat ihn so an diesem Land fasziniert, dass es ihn über fast 50 Jahre immer wieder hier hinzog? Genau das will ich herausfinden. Die Route, die wir einschlagen, ist nahezu identisch mit der letzten Schwedentour, auf der ich meine Eltern begleitete. Das war vor 20 Jahren.
Doch bereits beim ersten Einkauf im Supermarkt wurde es vertraut. Der Gang durch die Regale war ein Trip durch die Memory Lane. Überall gab es Leckereien wiederzuentdecken, deren Geschmack mir auch nach 20 Jahren noch auf der Zunge lag. Allem voran Kanelbullar, Zimtschnecken, wie es sie irgendwie nur hier gibt. Und natürlich Kalles Kaviar, ein salziger Brotaufstrich aus Fischrogen, gewöhnungsbedürftig, aber lecker. Oder Tünnbröd, ein leicht süßliches, im Holzofen gebackenes Fladenbrot, meist als deftiger Wrap mit Salat und Krabbensalat oder als süßes Frühstück mit salziger Butter und Marmelade gegessen. Womit wir bei der Marmelade wären. Absolute Spezialität: Hjortronsylt, aus der ausschließlich in nördlichen Breitengraden wachsenden Moltebeere. Sobald die kleinen, orange-gelben, leicht bitteren Beeren reif sind und sich herumspricht, wo sich welche finden, pilgern alljährlich tausende Schweden aus den Städten gen Lappland, um sie zu ernten. Denn durch das schwedische »Jedermannsrecht« ist es jedem erlaubt zu pflücken, was in schwedischen Wäldern wächst und gedeiht.
Mit schwedischen Leckereien eingedeckt ging es ins Landesinnere. Zunächst nach Värmland. Bilderbuchwetter hieß uns auch hier willkommen, gefühlt machten wir an jeden zweiten See auf dem Weg halt, um einmal kurz hinein zu hüpfen. Und derer gibt es viele in Schweden, fast 100.000 an der Zahl. Wir übernachteten, wo auch immer es uns gerade gefiel, auch hier kam das »Jedermannsrecht« wieder zum Einsatz. Vielerorts gibt es zudem unbewachte Plätze direkt am Wasser, auf denen man für ein kleines Entgelt übernachten kann.

Die Bezahlung erfolgt auf Vertrauensbasis. Man wirft etwas Geld in einen Briefkasten, dafür gibt es Holz zum Feuer machen, einfache Unterstände mit Holzbänken und ein Plumsklo. Das Freiheitsgefühl stellte sich bei uns schon am ersten Tag ein.

Und zwischendurch: Fika. Wenige Sachen sind den Schweden so heilig, wie ihre heißgeliebte Kaffeepause. Fika beschreibt dabei weniger die Pause an sich, sondern vielmehr das damit verbundene Gefühl, sich eine Auszeit im Kreise seiner Freunde, Familie, Geliebten oder Kollegen zu nehmen und den Moment bei einer guten Tasse Kaffee und etwas Süßem (in der Regel eine Zimtschnecke) zu genießen.
Womit wir wieder im Jetzt wären, denn eine Fika ist genau das, was ich nach mehreren Stunden Autofahrt durch die Pampa, ständig darauf bedacht, keinen Elch umzufahren, jetzt brauche. Wir befinden uns in der Provinz Dalarna, Heimat der berühmten, kunstvoll bemalten Dalapferdchen und mit 25 Braunbären pro 1000 Quadratkilometer die Region mit der höchsten Bärendichte im Land.
Genauer gesagt sind wir am Siljansee, vor 365 Millionen Jahren durch einen Meteoriteneinschlag entstanden und heute eine der schönsten Ecken der ohnehin an Schönheit nicht sparsamen Region Dalarna. Früher gab es für mich keinen Sommer, ohne mindestens ein Bad in diesem See. Ich war 13, als ich das erste Mal südlich des Harzes reiste. Meine Mutter hatte die Schnauze voll von portabler Chemietoilette, Campingkocher und Abendessen auf Klappstühlen und buchte für sich und mich einen All-Inclusive-Trip ins türkische Antalya. Mein Vater blieb aus Trotz zuhause. Nach der Scheidung fuhr er alleine nach Schweden.
Der Besuch des Siljansees mit seinen schnuckeligen Dörfchen von Leksand im Süden bis Mora im Norden hat daher für mich eine besondere Bedeutung und ist mit unzähligen Erinnerungen verknüpft.
Wir machen zunächst Halt in Tällberg, im Südwesten des Sees gelegen. Das Dorf hat sich verändert. Es ist touristischer geworden. Und es scheint eine bestimmte Art von Touristen anzulocken: solche mit Geld. Das 200-Seelen-Dorf hat mittlerweile zahlreiche höherklassige Hotels und Ressorts, die sich zwischen die alten, meist dunkelrot gestrichenen Lebkuchenhäusschen des Ortes verteilen. Statt viereckigen Volvokombis stehen Teslas und dicke Geländewagen im Ort. Schön ist es trotzdem. Wir laufen etwas durch die kleinen Straßen, immer höher, bis wir zu Holens Kaffeestuga kommen, eins von Schwedens ältesten Cafés, das nicht nur durch seinen Blick über die gesamte Siljianregion auftrumpft, sondern auch durch sein Gebäck-Angebot. Wir bestellen uns eine frisch gebackene Waffel mit Vanilleeis und Hjortronsylt und genießen den Ausblick, während um uns herum die Menschen ihre Fika auskosten. Das ist das Schweden, an das ich mich erinnere. Unendliche Wälder, silbern in der Sonne glitzernde Seen, freundliche Menschen. Gutes Essen.
Zum Abend hin machen wir einen kleinen Waldspaziergang entlang des Sees. Zwar ist die Mittsommmernacht schon ein paar Wochen vorbei, trotzdem weigert sich der Tag hartnäckig, Platz für die Nacht zu machen und tönt den Himmel bis in den späten Abend in die schönsten Pastelltöne.

Eine Woche später
Jetzt hat es uns doch eingeholt, das nordische Wetter. Wir sind immer noch in Dalarna, allerdings wesentlich weiter nördlich, im südlichsten Siedlungsgebiet der Sámi. Die Sámi sind ein in Nordschweden, Norwegen, Finnland und Teilen Russlands lebendes indigenes Volk. Viele Sami leben bis heute von der Rentierzucht. Die Landschaft wird wilder, umso weiter nördlich wir fahren, die baumbedeckten Partien immer wieder durch baumlose Fjälllandschaften abgelöst. Dicke Regenwolken hüllen die Bergketten um uns herum ein.


Wir versuchen trotzdem, das Beste draus zu machen, nutzen die trocknen Stunden des Tages für Outdoor-Aktivitäten, besuchen eine Sámi-Familie, streicheln Rentiere, essen Rentierragout und versuchen, uns von der Wetter-Situation nicht unseren Trip versauen zu lassen.


Was manchmal zugegebenermaßen etwas schwierig ist. Abends kuscheln uns in unseren Doppelschlafsack. Nicht, weil es so romantisch ist, aber in der Nacht fällt die Temperatur von tagsüber 17 auf sommerliche 7 Grad ab.
Langsam geht es dann auf den Rückweg. Der nördlichste Punkt unserer Reise liegt, nach einigen Tagen Wandern im Fjäll von Grövelsjön, hinter uns.
Und was macht mein Soulsearching? Die Reise hat unzählige Erinnerungen an wunderschöne Zeiten im Land der Mitternachtssonne zu Tage gebracht und viele neue hinzugefügt. Aber so ganz werde ich wohl nie rausfinden, was meinen Vater tatsächlich immer wieder in dieses Land trieb. War es das Freiheitsgehfühl? Die Schönheit der Landschaft? Oder die Zimtschnecken? Oder war es am Ende vielleicht doch einfach nur die Gewohnheit?
Als es unterwegs zwischenzeitlich kurz aufhört zu regnen, beschließen wir, einen kleinen Zwischenstopp am Njupeskär zu machen, mit 125 Metern der höchste Wasserfall des Landes.
Auf wackligen Holzplanken führt uns unser Weg durch eine sumpfigneblige Moorlandschaft und kleine Waldabschnitte voller moosbedeckter Tothölzer, die den Wald wirken lassen wie die Kulisse eines Disneyfilms. Der Geruch der Kiefern ist bei Regen noch stärker.
Nur wenige Menschen machen sich aufgrund der schlechten Witterung mit uns auf den Weg zum Njupeskär. Der Grund wird schnell steiniger und wir kommen vom Wald in eine tiefe, vom Wasser über die Jahrtausende in den Fels geschnittene Schlucht. Erst als das Rauschen des herunterstürzenden Wassers wirklich ohrenbetäubend wird, taucht der Wasserfall aus der Nebelwand vor uns auf. Der Rand der Felschlucht bleibt weiterhin im Nebel verborgen. Es wirkt, als würde der Wasserfall direkt aus den Wolken stürzen. Wir bestaunen einige Zeit das Naturschauspiel vor unseren Augen. Dann allerdings beginnt es so stark zu regnen, dass wir uns gezwungenermaßen auf den schnellstmöglichen Weg zurück zum Bulli begeben. Der Blick auf mein Handy offenbart, dass das Wetter bis zu unserer Abfahrt nicht merklich besser werden soll. »Vielleicht müssen wir einfach nächstes Jahr wieder nach Schweden fahren. Dann haben wir vielleicht mehr Glück mit dem Wetter«, sage ich an meine Freundin gewandt. And so it begins…

(Dieser Artikel erschien in gekürzter Form am 26. September 2021 in Die Welt)