Chefchaouen
„Kann ich dir helfen?“
Ich springe in Kampfhaltung. „Nein! Ich will einfach nur gucken!“, sage ich bestimmt und gucke den Verkäufer in dem kleinen Krimskramsladen misstrauisch an.
„Alles klar. Kein Stress, Mann“, sagt er, grinst mich an und verschwindet im hinteren Teil des Ladens.
Ich bin verwirrt. Seit ich in Marokko bin, habe ich mich eigentlich schon beinahe daran gewöhnt, mich entweder mit einem Roundhouse-Kick aus den Klammergriffen der militanten Verkäufer auf der Straße zu befreien, oder mich direkt tot zu stellen. Nicht so hier.
Seit einer halben Stunde laufe ich nun schon durch die Straßen und Gassen der Altstadt von Chefchaouen, einem kleinen Bergstädtchen im Norden des Landes, nachdem ich mich nach meiner Ankunft für eine Stunde erst einmal eine Stunde hingelegt habe, um mich zu akklimatisieren. (Fakt: ein Ostfriese muss sich ab einer Höhe akklimatisieren, in der sich seine Füße in einem Höhengrad befinden, in dem normalerweise seine Ohren sind. Und Chefchouen ist wesentlich höher als das.)
Ach ja: Sagte ich eigentlich schon, dass die Stadt komplett blau ist? Und damit meine ich nicht den Gemütszustand der Einwohner, sondern die komplette Stadt. Jedes Gebäude, jede Wand, jede Tür, jeder Fensterrahmen, sogar einige Straßen und Fußwege: blau. Komplett. Blau (sagte ich glaube ich schon).
Ich gehe also weiter durch die (komplett blauen!) Gassen der Stadt und werde zunehmend irritierter. Nicht aufgrund des Farb-Flashs, sondern, weil keiner versucht mich in seinen Laden zu ziehen und niemand mich überreden will, irgendwelche obskuren Gegenstände wie Kamelfuß-Lampenständer oder Schlangenhaut-Pantoffeln zu „garantierten Schnäppchen-Preisen“ zu kaufen.
Ich schlendere noch etwas weiter durch die engen (blauen) Gassen, immer mit der Angst im Nacken, dass sich die Straßenverkäufer wahrscheinlich nur irgendwo sammeln, um im nächsten Moment mit ihrer geballten Masse über mich herzufallen, um mich zu dem Kauf eines Kerzenständers aus Eselzähnen zu zwingen.
Doch es passiert nicht.
Ich komme auf einen kleinen (blauen) Marktplatz voller kleiner (blauer) Cafés, gehe direkt ins erste und steige eine kleine (blaue) Wendeltreppe hinauf auf die kleine (blaue) Terrasse des Ladens.
Die Terrasse ist ziemlich voll und es sind keine Plätze frei, außer an einem Tisch, an dem ein dunkelhaariger Mann sitzt und beschäftigt ein Kartenspiel mischt. Ich frage ihn, ob der Platz noch frei ist und setze mich zu ihm. Wir kommen schnell ins Gespräch, während er weiter seine Karten mischt. Netter Typ, Spanier, Mitte 30, der sich als Miguel vorstellt.
„Ist das nicht merkwürdig, dass man hier von keinem einzigen Straßenhändler belästigt wird?“, frage ich ihn.
„Naja, die Leute wollen einfach, dass du eine gute Zeit hast, wenn du verstehst was ich meine“, sagt er.
Nein, ich verstehe nicht was er meint.
„Nein, ich verstehe nicht was du meinst“, sage ich.
Miguel lacht. „Dude! Du weißt schon, wo du gerade bist, oder? Wir sind hier mitten im Riff-Gebirge, dem größten Haschisch-Anbaugebiet der Welt. 80 Prozent des weltweiten Cannabis wird direkt hinter den Hügeln dahinten angebaut“, sagt er und zeigt mit seinem Finger in Richtung der nebelbehangenen Hänge, die so weit hinter den Häuserreihen emporragen, bis sie im trüben Nirgendwo verschwinden.
„Sogar die Polizei hier ist bestochen, damit sie die Drogen-Touristen und die Leute hier in der Stadt in Ruhe lassen. Die Bullen kriegen von den Café-Betreibern Geld, damit sie nicht nach oben gucken. Darum darf man hier auch auf allen Dachterrassen kiffen, bis man blöd ist“, lacht Miguel.
Und plötzlich sehe ich sie, die weißen Wölkchen, die von den Dächern rund um mich herum in den wolkenbezogenen marokkanischen Himmel emporsteigen.
Als wollte er seinen Punkt unterstreichen, holt Miguel ein silbernes Döschen voll mit feinstem, wahrscheinlich nur einige hundert Meter von unserem Sitzplatz produzierten, marokkanischen Haschisch auf den Tisch und beginnt einen Joint zu bauen, ihn anzuzünden und ihn an mich weiter zu reichen.
Na gut… ich will ja nicht, dass die Café-Betreiber die Polizei umsonst bestochen haben. Langsam lichtet sich der Nebel über dem Riff-Gebirge und die Sonne kommt raus. Miguel und ich genießen die plötzlich aufkommende Wärme, tauschen Reisetips aus und bestellen einen Pfefferminz-Tee nach dem anderen.
„Was machst du eigentlich sonst so?“, frage ich ihn irgendwann.
„Ich bin Zauberer“
„Zauberer?“
„Zauberer“
Das erklärt die Karten.
„Krass… dann bist du doch bestimmt der Held auf jeder Party, oder nicht?“
„Klar, anfangs schon, aber die Frauen bekommt trotzdem am Ende immer der Typ mit der Gitarre. Wenn ich dir einen Tipp geben darf, Lennart: lern Gitarre“
„Haha, alles klar“
„Ne, ehrlich jetzt!“, sagt er ernst, „Ich meine, das ist mein verdammter Job, dafür trainiere ich seit Jahren mehrere Stunden täglich. Und dann kommt so ein Depp mit seiner Gitarre rein und spielt „Wonderwall“ und die Sache ist gegessen“
Ich hab mich immer schon mehr für die Bar selbst und deren Inhalt, als für irgendwelche temporären Partybekanntschaften interessiert, als dass ich wirklich Mitleid mit ihm haben könnte. Flirten liegt sowieso nicht in meiner ostfriesischen Natur. Wenn eine Frau mich nicht explizit darauf aufmerksam macht, dass sie mit mir flirtet, merke ich es meist gar nicht, sondern bin viel mehr verwundert darüber, warum sie so laut über meine Witze lacht.
Miguel allerdings scheint die Sache wirklich ernst zu sein.
Er spricht wahrscheinlich einfach aus bitterer Erfahrung.
Ich spreche schnell ein anderes Thema an, bevor Miguel noch vollends im Selbstmitleid versinkt.
Nach vier weiteren Tees kommen zwei Frauen die Treppe des Cafés hoch auf die Dachterasse. Sie blicken sich kurz um, entdecken Miguel und setzen sich zu uns. Sie sind ebenfalls Spanierinnen, die für zwei Wochen durchs Land reisen.
Das kleine Stimmungstief scheint vergessen. Die drei plappern zunächst eifrig auf spanisch los, bevor sie mich etwas schuldbewusst anblicken und auf Englisch wechseln.
„Läuft doch“, denke ich mir und blicke mich auf der kleinen Terrasse um. Kein Gitarrist weit und breit in Sicht.
Ich wollte sowieso noch etwas zu essen holen und mich weiter akklimatisieren und beschließe daher die drei Turteltäubchen allein zu lassen. Ich verabrede mich mit Miguel auf ein bis zwölf Tees am nächsten Tag, hieve mich vom Stuhl und bewege mich in Richtung Treppe.
„Ach Lennart, bevor du gehst: sag mir mal ’ne Karte“
Ich bleibe im Treppenaufgang stehen, denke kurz nach und sage: „Herz-Bube“
Miguel nickt, nimmt sein Kartenspiel und blättert es durch.
„Das trifft sich ganz gut, mein Herz-Bube ist nämlich weg. Kannst du mal gucken, ob du den vielleicht eingesteckt hast?“
„Ich hab dein Kartenspiel gar nicht in der Hand gehabt“, sage ich und greife in meine Hosentasche.
Aus meiner Hand lächelte mich der Herz-Bube aus Miguels Kartenspiel genau so stoned an wie Miguel zwei Meter weiter.
Im nächsten Teil