Per Kruse kommt aus Kopenhagen. In Flensburg kennt ihn trotzdem jeder, der schon einmal in den Abendstunden durch die Fußgängerzone geschlendert ist. Und wenn schon nicht persönlich, und vielleicht nicht einmal namentlich, dann zumindest vom Sehen.
Per Kruse ist der, der trotz geschlossener Geschäfte die Innenstadt mit Leben füllt. Der, der poppige Songs weniger poppig und kitschige Song weniger kitschig klingen lässt.
Per Kruse ist der Mann mit der Gitarre, der sich jedes Wochenende vor »Deichmann« die Seele aus dem Leib spielt.
So gut wie jeden Freitag- und Sonnabendabend stellt sich Kruse mit seiner Gitarre nach Ladenschluss in den Eingangsbereich des genannten Schuhgeschäfts und hört erst wieder auf zu spielen, wenn er keine Lust mehr hat.
Kruse singt schon, solange er sich erinnern kann, mit acht Jahren wurde er Solist im Kopenhagener Knabenchor, Gitarre brachte er sich mit 13 selber bei. Mit dem Stimmbruch wechselte er kurzzeitig zum Punk, gründete eigene Bands, hatte seinen Spaß und tingelte fortan durch die Musikszene und Kneipen des Kopenhagener Stadtteils Nørrebro.
2004 hatte er schließlich die Schnauze voll von Kopenhagen, von Großstädten im Allgemeinen. Er kündigte seine Wohnung, packte seine Gitarre und trampte Richtung Süden.
In Flensburg blieb er hängen. »Naja, von Kopenhagen aus ist Flensburg schon ziemlich südlich«, sagt Kruse.
Stilistisch würde Kruse seine eigene Musik als Pop bezeichnen, auch wenn seine Lieder nicht nach Mainstream klingen. Er mag gute Melodien, hat bereits als kleines Kind Lieder von den Beatles nachgesungen. Aktuelle Songs allerdings hat er nicht im Repertoire und wer sich von ihm Smash-Hits wie »Sweet Home Alabama« oder »Country Roads« wünscht, wartet vergeblich. Er spielt, so lange er Lust hat, worauf er Lust hat. Aus dem Stand hat er ein Repertoire von 50 bis 60 Liedern. »Es ist immer stimmungsabhängig. Manchmal entwickelt sich auf der Straße eine richtige Party. Es müssen manchmal nur ein oder zwei Leute stehen bleiben, dann kann schon eine Art Gruppendynamik entstehen«, berichtet er.
Noch in Kopenhagen hat er eine CD mit eigenen Liedern aufgenommen. Die brennt er ab und zu und verkauft sie gegen Spende. So könne sich jeder eine leisten.
»Ich treffe so viele Leute, die sagen, ‚Oh, du musst unbedingt zu Dieter Bohlen!‘. Aber das ist gar nicht meine Welt. Ich habe keinen Bock auf Gefühls-Porno. Denen ist es am liebsten, wenn man eine schlechte Kindheit gehabt hat. Ich meine, das habe ich, aber das interessiert doch in Wirklichkeit keinen Menschen. Bei diesen Shows rutscht die Musik in den Hintergrund. Auf die Art, wie ich meine Musik mache, finde ich das viel persönlicher. So werde ich das auch beibehalten«, sagt der Sänger.
Auch Kneipenkonzerte spielt er nicht mehr so gerne, nicht nur, weil es kaum noch Kneipen mit Livemusik in Flensburg gibt.
»Auf der Straße stehen nur die, die meine Musik auch wirklich hören wollen, wohingegen die Menschen in der Kneipe meist nur feiern wollen, was ich natürlich auch verstehen kann. Aber dort fehlt einfach ein bisschen Respekt für die Kunst. Da stehe ich lieber auf der Straße und verdiene ein Zehntel«, erklärt der Musiker.
Zum Geld hat Kruse ohnehin ein ambivalentes Verhältnis. »Ich habe das schon so oft erlebt, dass ich mir dachte: ‚Oha, wie komm ich jetzt über die Runden?‘ Aber irgendwie habe ich immer bekommen, was ich brauche«, erzählt der Musiker.
Einige seiner Straßenmusiker-Kollegen gingen nach ihren Konzerten mit einem Hut rum, um Geld einzusammeln. »Das würde ich nie machen, das ist für mich nichts anderes als Bettelei. Die Leute müssen freiwillig rüberkommen, dann weiß ich, dass es von Herzen kommt. Dann bin ich zufrieden. Alles andere hat einfach keinen Stil«, sagt er.
Seine Interpretationen massentauglicher Popsongs stechen hervor, gehen direkt unter die Haut. Oasis’»Don’t Look Back In Anger« gehört ebenso zu seinem Repertoire wie »Nothing Ever Happens« von Del Amitri, doch im Gegensatz zu Kruses Versionen wirken die Originale fast schon platt. So minimalistisch, beinahe zerbrechlich, wie Kruse sie vorträgt, so kraft- und eindrucksvoll ist der Effekt, den er dabei erzielt.
Seine eigenen Lieder spielt er vor allem für sich selbst. »Wenn sie den Leuten gefallen, dann freut mich das natürlich sehr. Aber wenn nicht, ist mir das eigentlich auch scheißegal«, lacht Kruse.
Seine Inspiration holt er sich von den Menschen, die ihm begegnen, und von Dingen, die ihn beschäftigen. Sie handeln von sozialer Kälte und der seelischen Armut einiger seiner Mitmenschen, genau wie von der Liebe, denn »man trifft ja auch ab und zu mal eine Frau«, erklärt er.
Anfangs hatte Kruse noch Probleme damit, seine Musik mit den Menschen zu teilen, da sie einen sehr persönlichen Teil seines Lebens repräsentiert und ihn begleitet, so lange er zurückdenken kann. »Musik war in meiner Kindheit mein einziger Schutz. Das war meine eigene Welt. Da konnte mich keiner erreichen und keiner konnte sie mir wegnehmen«, berichtet der 47-Jährige.
Erst mit Mitte 20 war er daher bereit, mit eigenen Liedern aufzutreten.
Dabei ist Kruse nicht menschenscheu. Im Gegenteil. »Ich kenne fast jeden einzelnen Bettler und Penner in Flensburg. Ich liebe einfach Menschen, egal ob sie am oberen oder unteren Ende der Gesellschaft stehen. Denn bisher konnte ich aus jeder Begegnung etwas mitnehmen. Selbst, wenn es am Ende eine schlechte Erfahrung war, war es eine Erfahrung«, sagt Kruse.
2007 lief Kruse den Jakobsweg. Er bezeichnet sich selbst als spirituellen Menschen, ist aber nicht religiös. »Ich wollte einfach herausfinden, ob ich es schaffe nur mit Straßenmusik auf Reisen zu gehen. Zunächst musste ich mich allerdings erst einmal trauen, alles loszulassen«, beschreibt er den Schritt, der ihn per Bahn, Bus oder Anhalter durch ganz Deutschland und Frankreich bis zum Startpunkt des 1000 Jahre alten Pilgerpfades führte. Er ließ sich Zeit, blieb so lange in einer Stadt, bis er sich genügend Geld für ein Ticket in die nächste erspielt hatte.
Nach sieben Wochen kam er im französischen St. Jean-Pied-de-Port an, von wo aus er 800 Kilometer zu Fuß bis nach Santiago de Compostela in Spanien zurücklegte.
Drei Monate war er insgesamt unterwegs. Mit 60 Euro fuhr er los. Als er zurückkam, hatte er noch 2,50 Euro in der Tasche.
Das war im Sommer. Diesen Winter möchte er den Weg abermals laufen, in der Hoffnung, irgendwann alle vier Jahreszeiten auf dem Pilgerpfad erlebt zu haben. Ob er zurückkommt, weiß er noch nicht.
»Ich liebe Flensburg. Die Stadt hat die perfekte Größe und die Leute und die Stimmung sind supertoll. Aber man weiß ja nie, was passiert«, sagt er.
Bis dahin ist er mit etwas Glück noch ein paar Mal auf den Straßen der Stadt zu hören. Nach Ladenschluss, bei »Deichmann«, der »besten Bühne Flensburgs«, wie er sagt.
Per Kruse kann von seiner Musik leben. Er kommt über die Runden, ohne sich oder seine Ideale zu verkaufen.
Zusammengefasst, was bedeutet die Musik für ihn?
»Alles«, sagt Kruse.
(Old School in gedruckter Form erschien der Artikel am 2. Oktober in der Flensborg Avis. Fotos und Video: Lars Salomonsen)