18 Uhr, Irgendwo zwischen der Sahara und dem Atlas-Gebirge
Ich befinde mich in einem Bus auf dem Rückweg von Zagora nach Marrakesch, um vor dort aus weiter an die nördliche Atlantikküste zu fahren. Langsam schaukelt sich das Gefährt vom palmenbestandenen Draa-Tal in die ersten, höheren Gebirgszüge des Atlas. An das Geschaukel hab ich mich durch die Woche auf dem Kamelrücken gewöhnt, die ältere Dame neben und ihre Freundinnen in den Reihen vor und hinter mir leider nicht. Was dazu führt, dass mindestens eine von ihnen, ziemlich genau im Viertel-Stunden-Takt brechen muss. Jedes Mal blickt mich meine Sitznachbarin vorher leidend an, schickt ein kurzes Stoßgebet zu Allah und übergibt sich.
Ich versuche durch den Mund zu atmen, blicke aus dem Fenster, versuche den beissenden Geruch zu ignorieren und bin beeindruckt von der kargen Schönheit, in der die Landschaft sich vor mir präsentiert
Ich beginne die Fahrt trotz der ungünstigen Randerscheinungen zu genießen. Wir rumpeln durch kleine Dörfer, vorbei an schneebedeckten Gipfeln in der Ferne, Männer mit Eseln und Kamelen am Straßenrand, die ihre Waren verkaufen wollen und Frauen in schwarzen Burkas, die schwer beladene Körbe auf ihren Köpfen balancieren.
Umso höher wir uns ins Gebirge schlängeln, umso wilder wird die Landschaft. Zerklüftete Felsvorsprünge ragen bis an die Straße, Häuser sieht man bald gar nicht mehr und vereinzelnd liegt bereits Schnee am Wegesrand.
Der Bus selbst jedenfalls, scheint meinen Genuss nicht zu teilen, und nach dem vierten oder fünften Gebirgskamm stottert er kurz, fängt an zu qualmen und bleibt holpernd am Straßenrand stehen.
Meine Sitznachbarin fängt vor Schreck an zu kotzen, während der Busfahrer sich umdreht und uns bittet ruhig zu bleiben und kurz auszusteigen
Ich bin sogar ganz froh, endlich an der frischen Luft zu sein und dem beißenden Kotze-Geruch zu entkommen, auch wenn mich der Qualm, der aus dem Kühlergrill des eh schon recht labil anmutenden Fahrzeugs kommt, in meiner Vermutung unterstützt, dass es wohl etwas länger dauern könnte.
Der Busfahrer verschwindet kurz im hinteren Teil des Busses und kommt wieder mit einem alten Werkzeuggürtel um die Hüften. Er sieht damit etwas aus wie ein marokkanischer Tim Taylor.
Was ich dann beobachte, ist männliches Alphatier-Gehabe in Perfektion. Alle Männer versammeln sich in einem großen Haufen um den Busfahrer und die aufgeklappte Motorhaube des Buses. Jeder scheint ganz genau zu wissen, wo das Problem liegt und versucht seine Expertise möglichst lautstark kundzutun. Ein besonders lautstarker Vertreter des Pulks hat irgendwann genug, schnappt sich vom Busfahrer einen Schraubenschlüssel und macht sich an die Arbeit. Er klopft ein paarmal irgendwo hin, schraubt hier etwas, kratzt sich am Kopf, gibt den Schraubenschlüssel weiter an den nächsten. Auch hier das gleiche Prozedere. Nach etwa 30 Minuten des Klopfens, Schraubens und Kopfschüttelns, rufen sie endlich Hilfe.
Weitere 30 Minuten später winkt der Busfahrer ein paar Autos heran, redet kurz mit den Fahrern und beginnt die 40 (40!) Passagiere auf drei (DREI!!) Wagen zu verteilen.
Wir sitzen also mit 13 (D-R-E-I-Z-E-H-N!!!!!) Personen in einem Nissan Kombi. Ich sitze mit einer alten Oma neben mir auf dem Vordersitz und habe neben meinem Rucksack noch zwei Kinder auf dem Schoß, von denen eins ununterbrochen am Weinen ist.
Ich habe das Gefühl in einem dieser Clowns-Autos aus alten Cartoons zu sitzen.
Unser Fahrer fährt uns bis zum Busbahnhof von Ouazzazad, wo ich einige Stunden warten muss, bevor ich in den nächsten Bus nach Marrakesch steige. Nach einigen Minuten, in denen prickelnd das Blut von meiner Hüfte bis in meine Füße läuft, kann ich zum ersten Mal seit fast zwei Stunden meine Beine wieder spüren.
4.30 Uhr, Marrakesch
Abermals umsteigen. Ich bin mittlerweile so gerädert, dass ich mich fühle wie in Trance.
8.30 Uhr, Casablanca
Ich habe keine Ahnung, wie und wann ich den Bus gewechselt habe, aber mein Sitznachbar ist ein anderer, mein Bus ist ein anderer und ich scheine mich auf dem Weg nach Rabat zu befinden….
11.30 Uhr, Rabat
In Marokkos Hauptstadt Rabat angekommen, habe ich anscheinend meinen toten Punkt überwunden und mache mich völlig aufgedreht zum Taxistand. Ab jetzt fahren keine Busse mehr dahin, wo ich hin will. Ich finde nach einigem Suchen das richtige Taxi, handele mit dem Fahrer den Preis aus und steige ins Taxi. Auf der Rückband sitzen bereits zwei Frauen um die 30. „Hi, auch ans Meer?“ sage ich zu den beiden, die mich erschrocken anblicken, während ich im gleichen Augenblick merke, wie mich jemand an der Schulter packt und mit einem Ruck aus dem Taxi zieht. Ein Mann, den ich durch seine Aktion als den Mann mindestens einer der Frauen im Auto einschätzen würde, guckt mich mit funkelnden Augen an und schreit mir irgendwas auf Arabisch ins Gesicht, dem er so nah ist, dass ich etwas Spucke ins Auge bekomme. Der Taxifahrer ist sofort zu Stelle, stellt sich zwischen uns und redet beruhigend auf den Mann ein, der extrem wütend zu sein scheint. Er zieht ihn zur Seite und diskutiert einen Moment mit ihm. Dann kommt er auf mich zu.
„Nicht mit seiner Frau sprechen, bitte“, sagt der Taxifahrer zu mir und blickt etwas besorgt zu dem Typen zurück.
Aus dem Hintergrund werde ich von dem Typen angeguckt, als hätte ich ihm gerade seinen Lutscher geklaut.
Ich frage den Fahrer, ob noch ein Taxi bis nach Moullay Bousselham fährt, was er verneint. Mir bleibt also nichts anderes übrig, als mich mit einem gezwungenen Lächeln neben den Typen zu setzen, der jetzt Platz neben seiner Frau genommen hat. Sein Blick signalisiert mir, das es zwecklos ist, ihn besänftigen zu wollen.
Vor mir liegen die wohl unangenehmsten drei Stunden Autofahrt meines Lebens. Wir sitzen zu viert auf der Rückbank des alten Citroën. Ich drehe mich von den anderen weg in Richtung Fenster, da die Drei es schaffen die gesamte Rückenlehne für sich zu beanspruchen und mich so zwingen diese auf Dauer äußerst unbequeme Position einzunehmen. So verharre ich, meinen Rucksack auf meinem Schoß, krampfhaft versuchend dem glühenden Blick meines Nachbarn auszuweichen, während sich dessen Ellenbogen immer tiefer in meine Seite bohrt. Mein Rücken beginnt mich umzubringen, während ich Stunde um Stunde starr aus dem Fenster blicke.
Obwohl ich ihn nicht verstehe, kann ich merken, dass der Typ beginnt Witze über mich zu machen. Er nickt gelegentlich mit dem Kopf zu mir herüber und sagt irgendetwas, woraufhin der Rest des Taxis anfängt zu lachen. Nur der Taxifahrer hält sich diskret zurück.
16.30 Uhr, Souk el Arbaa du Gharb
Es wird von Minute zu Minute unangenehmer, bis wir nach einer gefühlten Ewigkeit endlich in ein Kaff namens Souk el Arbaa du Gharb ankommen, in dem ich abermals das Fahrzeug wechseln muss. Endlich. Ich wäre lieber in dem Kotzbus vom Abend vorher bis nach Kapstadt gefahren, als noch einen Augenblick länger neben diesem verfickten Wichser Typ zu sitzen.
Ich verabschiede mich vom Fahrer und überlege, ob ich dem komischen Mann den Mittelfinger zeigen und wegrennen soll. Ich weiß allerdings nicht, wohin, also entscheide ich mich dagegen.
Mein Magen hängt mir mittlerweile in den Kniekehlen. Ich habe seit Stunden nichts mehr gegessen.
Ich sehe mich kurz um und mein Blick bleibt sofort an einem qualmenden Grill am anderen Ende des Parkplatzes hängen, der, wie das Dorf, wahrscheinlich schon bessere Zeiten erlebt hat. Ich schlängele mich durch die Menschen und Taxis, die kreuz und quer auf dem Sammelplatz stehen.
Auf dem Holzkohlengrill liegen duftende, auf Metallspieße gesteckte Fleischbällchen, die mich geradezu anlachen. Ich bestelle eine Portion und bekomme ein halbes Fladenbrot, gefüllt mit knapp 20 der kleinen Fleischhappen in die Hand gedrückt. Unter normalen Umständen wären wahrscheinlich zwei Menschen von der Portion saftgeworden. Heute nicht. Die Fleischbällchen sind unglaublich saftig und zart. Im ersten Moment dachte ich, dass es kleine Frikadellen wären, aber es ist kein Hackfleisch, in das ich gerade hineinbeiße.
Ich frage den Verkäufer, was er für Fleisch benutzt, woraufhin er sich in den Schritt fasst und anfängt zu blöken. Ich verschlucke mich und beginne wie verrückt unter dem tosenden Gelächter des Verkäufers und der umstehenden Männer zu husten. Ich laufe rot an, huste weiter und weiß nicht, ob ich den Bissen versuchen soll herunterzuschlucken oder auszuspucken, sobald er meine Luftröhre verlassen hat.
So ganz will mein Gehirn es irgendwie noch nicht einsehen, dass mir gerade ein Schafshoden die Luft abschneidet.
Der Verkäufer klopft mir lachend auf den Rücken, während sich der Rest der Menschen um mich versammelt und ebenfalls in das Lachen einstimmt.
„Very good! Make you very manly. You know… for the Ladies!“, versichert er mir und greift sich abermals in den Schritt.
Nun gut, ich weiß nicht, ob dieses Attribut unbedingt hilfreich ist, in einem Land, in dem man schon Prügel angedroht bekommt, wenn man einer Frau nur „Hi“ sagt. Aber meine Gedanken sind nur kurz bei der marokkanischen Frauenwelt und kehren schnell zu dem Snack in meinen Händen zurück.
Erwartungsvoll sind die Blicke der umliegenden Menschen auf mich gerichtet, während ich angewidert auf das knappe Duzend Hoden in meiner Hand blicke. Wahrscheinlich denken sie, dass ich mich gleich übergeben muss. Aber die Genugtuung will ich ihnen nicht geben, außerdem habe ich immer noch Hunger und weit und breit gibt es keine Alternative. Ich versuche an schöne Dinge zu denken, an den Matjestopf von meiner Oma, Gitti’s Grill in Ostfriesland, sogar an McDonalds, während ich den Rest so schnell wie möglich und ohne wirklich zu kauen versuche herunterzubekommen.
Ich wische mir den Mund ab und nicke der Menge mit stolzem Siegerblick zu.
Mit leicht flauem Gefühl im Magen steige ich in ein Sammel-Taxi Richtung Meer und mit mir sechs weitere Männer. Zum Glück soll die Fahrt nur eine Stunde dauern.
Die Fahrt verläuft zur Abwechslung ganz angenehm. Meine Mitfahrer sind nett, allesamt Fischer aus Moulay Bousselham, und wir kommen schnell ins Gespräch.
Die Landschaft wird grüner, umso näher wir der Küste kommen und wir fahren vorbei an Olivenbäumen, Zypressen und Blumenwiesen, auf denen sich Vogelschwärme ihr Futter suchen. Wenn ich es nicht besser wüsste, und die Musik im Radio und die Männer im Auto mich in diesem Wissen nicht bestätigen würden, könnte man meinen, durch die französische Provence zu fahren.
Wir fahren um eine weitere Kurve und ich stocke beim Blick aus dem Fenster kurz beim Reden.
Vor mir breiten sich goldglitzernden Wogen des Atlantischen Ozeans in der Abendsonne aus.
Im nächsten Teil: